Wirtschaftsnobelpreis 1971: Simon Smith Kuznets

Wirtschaftsnobelpreis 1971: Simon Smith Kuznets
Wirtschaftsnobelpreis 1971: Simon Smith Kuznets
 
Der Amerikaner erhielt den Nobelpreis für »seine Erklärungen von wirtschaftlichem Wachstum, die zu neuen Einsichten in wirtschaftliche und soziale Strukturen sowie zu Entwicklungsprozessen führten«.
 
 
Simon Smith Kuznets, * Charkow (Ukraine) 30. 4. 1901, ✝ Cambridge (Massachusetts) 9. 7. 1985; 1927-61 Forschungstätigkeit am National Bureau of Economic Research in New York, 1931-71 Professor an verschiedenen Hochschulen, zuletzt 1960-71 an der Harvard University; 1946 politischer Berater der chinesischen Kuomintang-Regierung, 1950-51 Berater der indischen Regierung unter Nehru.
 
 Würdigung der preisgekrönten Leistung
 
In modernen Darstellungen der makroökonomischen Theorien wird Simon Kuznets nur selten erwähnt. Die spärlichen Hinweise auf ihn beschränken sich meist auf seine Untersuchungen zum Verlauf der Konsumfunktion, die den gesamtwirtschaftlich berechneten privaten Verbrauch in Beziehung zu anderen ökonomischen Größen, vor allem dem Volkseinkommen, setzt. Doch auch 1971 dürfte die Mehrzahl der Ökonomen überrascht gewesen sein, dass das Werk des wenig bekannten Kuznets mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde. Unabhängig von seiner Bekanntheit ist jedoch zu vermerken, dass die Entstehung der empirischen Wirtschaftsforschung, ohne die die heutige Wirtschaftstheorie kaum mehr denkbar wäre, eng mit seinem Namen verknüpft ist.
 
Kuznets erhielt den Nobelpreis vor allem für seine auf empirischen Untersuchungen basierenden vergleichenden Studien zum wirtschaftlichen Wachstum von Staaten. Mit dieser Thematik beschäftigte er sich seit den späten 1950er-Jahren in etlichen Veröffentlichungen, die zum Teil auch bevölkerungs-, struktur- und verteilungstheoretische Fragen beinhalten. Wichtigstes Werk ist sein 1966 erschienenes Buch »Modern Economic Growth: Rate, Structure, and Spread« (englisch; Modernes Wirtschaftswachstum: Rate, Struktur und Umfang), dessen Kerngedanken in späteren Veröffentlichungen noch ausgebaut wurden.
 
Wichtig ist die Bezugnahme auf »modernes Wirtschaftswachstum«. Mit diesem Begriff sucht Kuznets die Epoche zu kennzeichnen, die die wirtschaftliche Entwicklung des nordwestlichen Europas seit Mitte des 18. Jahrhunderts, die des südlichen und östlichen Europas sowie der USA, Kanadas, Australiens und Neuseelands seit dem 19. Jahrhundert bis in die heutige Zeit umfasst. Das Wirtschaftswachstum ist als langfristige Zunahme des aus der Kombination verschiedener Produktionsfaktoren wie Arbeit und Kapital zusammengesetzten Produktionspotenzials definiert. Natürlich hat es auch in anderen Epochen der Wirtschaftsgeschichte Wirtschaftswachstum gegeben. In der von Kuznets untersuchten Phase erreichte es in den entwickelten Regionen der Erde jedoch eine gänzlich neue Qualität, von deren Verständnis sich Kuznets auch Rückschlüsse auf Maßnahmen in unterentwickelten Regionen erhoffte.
 
 Kuznets Swings
 
Das moderne Wirtschaftswachstum zeichnet sich durch sehr hohe Wachstumsraten des Produktionspotenzials über mehrere Jahrzehnte aus, die jedoch von zyklischen Abschwungphasen begleitet werden. Diese Entwicklung, die mit physikalischen Schwingungen vergleichbar ist, teilte Kuznets 1958 in durchschnittlich 22-jährige Zyklen ein, die in Abgrenzung zu alternativen Konzeptionen als »Kuznets Swings« bezeichnet werden.
 
Die von Kuznets beobachtete Epoche lässt sich charakterisieren durch eine radikale Veränderung der Wirtschaftsstruktur, nämlich einen rapiden Rückgang der landwirtschaftlichen Produktion bei gleichzeitiger Ausdehnung des Dienstleistungssektors. Auch eine Zunahme der industriellen Produktion lässt sich vielfach beobachten. Sie ist jedoch kein ausschlaggebendes Merkmal, weil das Wachstum vor allem durch die Zunahme der Handelsströme und durch technischen Fortschritt in der Landwirtschaft verursacht wird. Daher verwahrte sich Kuznets gegen die gemeinhin verwendete Bezeichnung »industrielle Revolution«. Ebenso lehnte er den Begriff des »Kapitalismus« ab, da sich ähnliche Entwicklungen im 20. Jahrhundert auch in den sozialistischen Gesellschaften beobachten ließen. Weitere Charakteristika sind hervorzuheben: Am auffälligsten sind die hohen Wachstumsraten des Pro-Kopf-Einkommens und der Bevölkerung. Zugleich gibt es auf zunehmenden technischen Fertigkeiten beruhende hohe Produktivitätssteigerungen. Damit verbunden lassen sich schnelle Veränderungen der Gesellschaft und ihrer Ideologien beobachten. Deren Resultat besteht in Veränderungen der Lebensbedingungen der Bevölkerung durch zunehmende Verstädterung, Binnenwanderung, wachsende Bedeutung des Angestelltenstatus, Veränderungen der Rolle der Familie und Änderungen der politischen Systeme. Kuznets hebt dabei hervor, dass sich diese Veränderungen keineswegs immer konfliktfrei vollzogen haben, und betont die immensen Kosten, die dieser Prozess verursacht hat. Auch ist zu beobachten, dass die wirtschaftlich entwickelten Länder, mit überlegenem technologischem Potenzial und Kommunikationssystemen ausgestattet, zu räumlicher Ausdehnung neigen. Zugleich sind dieser Ausdehnung aber auch Grenzen gesetzt, was sich an dem immer größeren ökonomischen Abstand zwischen entwickelten und unterentwickelten Ländern deutlich zeigt, da letztere, von Teileffekten abgesehen, kaum an diesem Wachstumsprozess teilhaben können.
 
 Ein Pionier des empirischen Vorgehens
 
Kuznets' Arbeiten zum modernen Wirtschaftswachstum gingen Forschungen zur Konzeption und empirischen Erfassung des Volkseinkommens und seiner Elemente voraus. Diese müssen zugleich als Basis für seine späteren Arbeiten verstanden werden, da die Analyse ihrer Veränderung ein Bestandteil der Untersuchung des Wirtschaftswachstums darstellt. Bei diesen Forschungen kann Kuznets als Pionier betrachtet werden, obwohl empirisches Vorgehen auch einigen Seitenlinien der Wirtschaftstheorie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wie der deutschen Historischen Schule, den amerikanischen Institutionalisten und der marxistischen Wirtschaftstheorie nicht fremd war. Die meisten seiner Vorgänger jedoch gewannen diese Größen deduktiv, das heißt auf einem rein theoretischen Weg durch logische Umformulierungen einmal gegebener Aussagen.
 
Aus Kuznets' Vorgehensweise resultierte unter anderem die Entwicklung empirischer Maße für die gesamtwirtschaftlichen Größen des Verbrauchs, der Ersparnis und der Investitionen. Seine Arbeiten spielten also bei dem Prozess, die Wirtschaftswissenschaften zu ihrer heutigen Form weiterzuentwickeln, eine herausragende Rolle. Heute stellen die Wirtschaftswissenschaften eine quantitative Wissenschaft dar, in der theoretische Überlegungen, wirtschaftliche Maßgrößen und statistische Methodik eine logische Einheit bilden.
 
Kuznets behielt während seiner Arbeiten eine gesunde Skepsis gegenüber dem Aussagegehalt rein ökonomischen Theoretisierens und Modellierens auf mathematischer Basis, weil er die soziale Realität als weitaus komplexer ansah, als sie auf diese Weise erscheinen mag. Daher suchte er immer wieder den Austausch mit Vertretern anderer Disziplinen wie der Anthropologie, Soziologie und politischen Wissenschaft.
 
J. Schulz

Universal-Lexikon. 2012.

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